Meine persönliche Geschichte mit Demenz
Alles beginnt mit der fortschreitenden, nun offensichtlichen Demenz meines Schwiegervaters. Nach einem Sturz und einer darauffolgenden Operation mit Vollnarkose wird er nach dem Spitalaufenthalt direkt ins Alters- und Pflegeheim verlegt, da sich seine Demenz massiv verschlechtert hat.
Als ich ihn als nicht direktes Familienmitglied besuchen darf, ist meine Leidenschaft für das Thema Demenz entfacht. Ich tauche während dieser neunzig Minuten in seine Welt ein. Er sieht in mir die Besitzerin dieses bunten Hotels, in welchem er logiert – ich werde zur Hotelbesitzerin. Mein Schwiegervater fragt mich: «Ja, hast du denn Zeit, wenn du so viele Hotels besitzt? Das ist ja ganz flott, dass du dir Zeit nimmst für jeden Gast. Aber als Hotelbesitzerin solltest du doch wissen, wo der Aufzug ist.» «In jedem Hotel sieht es wieder anders aus, da muss ich mich erst daran gewöhnen, wo die Aufzüge sind», antworte ich, während ich versuche die Rolle der Hotelbesitzerin zu übernehmen. «Wir können dies ja zusammen auszukundschaften.» «Ja, gerne», und nach einigen Minuten, während welcher wir durch die Gänge spaziert sind, meint er, «ich möchte mich auf eine Bank setzen». «Dort drüben hat es eine Bank, setzen wir uns auf die, dann können wir den Innenhof beobachten», nehme ich sein Bedürfnis auf. «Die haben hier farbige Wände, viele Bilder und alte Möbel. Das hast du ganz schön gemacht», lobt er mich. «Ja, mir gefällt es auch. Dort unten steht sogar eine bunte Kuh.» «Ja, das ist schön, es gefällt mir hier.»
Als ich mich verabschiede, will er mich zum Ausgang hofieren. Ich mache mir Sorgen, dass er den Weg zurück nicht mehr findet und lasse mich dennoch von ihm begleiten. «Wir müssen diesen blauen Punkten am Boden folgen, er führt uns zu unserem Lift. Da vorne ist der Aufgang», leitet er mich ganz gekonnt zum Eingang. Ich verabschiede mich von ihm, drehe mich um und merke, dass er jetzt plötzlich verloren wirkt. Daraufhin frage ich ihn, «weisst du, wo du hingehen musst, wenn du zurück zum Zimmer willst?» «Nein», antwortet mein Schwiegervater verunsichert. «Soll ich dich begleiten?» «Ja, gerne.»
So begleite ich ihn hoch in den dritten Stock zu seinem Zimmer, welches er dank eines Bildes der Achenseebahn gut erkennt. Als er sich in das Zimmer zurückzieht, verabschiede ich mich ein weiteres Mal. Dieses Mal gehe ich alleine hinunter und verlasse das Pflegeheim.
Am Ende seiner Reise
An meinem heutigen freien Tag – Karfreitag – stehe ich gemütlich auf und weiss, dass ich heute die Zeit nutzen werde, um meinen Schwiegervater im Altersheim zu besuchen. Anfang Oktober hiess es, er werde nur noch drei Wochen bis drei Monate leben, inzwischen ist ein halbes Jahr vergangen. Ich weiss, dass ich heute gehen muss.
Mein Schwiegervater liegt sterbend im Bett. Er ist nicht mehr ansprechbar und hat stark abgenommen. Der verwesende Geruch wird durch ätherische Öle übertönt, leise Naturgeräusch-Musik rieselt im Hintergrund. Es ist nicht mehr derselbe Mensch, den ich hier vor mir habe. Den Beginn meiner Pflegeheim-Reise verbinde ich mit einem vitalen, gesprächigen Menschen, auch wenn damals schon an starkem Hautkrebs und mittlerer Demenz erkrankt, aber hier liegt ein Mensch am Ende seiner Reise.
Ich stelle mich ihm vor, falls er nicht zuordnen kann, wer ich bin, und berühre ihn sanft. In aller Selbstverständlichkeit spreche ich zu ihm und beobachte seine Mikro-Bewegungen. Zwar weiss ich noch nicht, was die Reaktionen bedeuten, aber ich weiss, dass er mich hört, mich versteht und sein Körper irgendwie auf meine Äusserungen reagieren wird. Während ich ihn frage, ob ich ihn berühren darf, regt sich sein linker Zeigefinger. Ich nehme dies als Ja und berühre sanft seine linke Hand. Als sich der Zeigefinger entspannt, nehme ich dies als positives Feedback und spreche seine Hand streichelnd weiter zu ihm. In mir entsteht ein Gefühl der Ruhe, etwas scheint sich zu entspannen. Ich muss plötzlich an sein baldiges Sterben denken und nehme dies als Gelegenheit, ihm zu erzählen, was ich über den Tod und das Leben danach weiss. Danach habe ich das starke Bedürfnis, mich bei ihm zu bedanken. Zu bedanken dafür, dass ich ihn kennenlernen durfte, dass er der Grossvater meiner Kinder ist und dass wir gemeinsam mit ihm und seiner Frau an seinem Lieblingsort Ferien verbringen durften.
Erst im Laufe der Zeit merke ich, dass ich mich bei ihm für sein Sein bedanke und ich ihm die bestmögliche Unterstützung für das schwierige Loslassen hier auf Erden zu ermöglichen versuche. Immer wieder berühre ich seinen Arm, seine Schulter und seine Hand, da ich ein starkes Bedürfnis habe ihn zu berühren und auch weiss, dass er Berührung mochte und sich danach sehnte. Irgendwann habe ich das Gefühl, es ist genug. Mit einem Kuss auf seine Hand verabschiede ich mich bei ihm. Ein friedliches Gefühl durchströmt mich, obwohl ich nicht weiss, wann er sterben wird.
Zu Hause angekommen informiert mich meine Tochter, dass ihr Grossvater, mein Schwiegervater, heute Nachmittag gestorben sei, kurz nachdem ich bei ihm gewesen bin. Er sei erstaunlich ruhig und friedlich eingeschlafen im Beisein seiner Frau. Meine Schwiegermutter erzählt mir später, dass ihr bei ihrem Besuch aufgefallen sei, dass ihr Mann heute viel ruhiger gewesen sei als sonst. Sie fragt mich, da ich ihn ja kurz vor ihr besucht habe, ob ich mit ihm «gearbeitet» habe, dass er so ruhig werden und friedlich gehen konnte.